Soziokratie in Wohnprojekten: Ein Weg zur gemeinschaftlichen Organisation

29. April 2024 Lesezeit: Themen
Wohnprojekte sind lebendige Gemeinschaften, in denen Menschen nicht nur zusammenkommen, um zu wohnen, sondern auch zu arbeiten, zu gestalten und zu leben. Für dieses gemeinsame Ziel gibt es viele Entscheidungen zu treffen, Diskussionen zu führen und Herausforderungen zu meistern. Die Soziokratie bietet einen Weg, Projekte zu stärken und zu organisieren.
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Soziokratie in Wohnprojekten ©pixabay

Was macht die Soziokratie aus und wobei kann sie unterstützen?

Dieser Artikel beruht auf den Erfahrungen von Jessica Weber und Jochen Dambacher in der Gründung und Umsetzung der Wohngenossenschaft Öko.See.Dorf. Seit der Gründung 2018 ist die Soziokratie ein fundamentaler Bestandteil der Wohngenossenschaft Öko.See.Dorf und hat der Gruppe in ihren Veränderungen immer Halt gegeben. Die ursprüngliche Einführung der soziokratischen Kreismethode (SKM) wurde anfangs verbindlich umgesetzt und wird heute etwas freier interpretiert. Einfluss gegeben haben dabei sowohl die Beratung durch Martin Dehnke als auch die Beeinflussung der Soziokratie 3.0 (S3).

Aufbau in Kreisen

Die Soziokratie fördert eine effektive Zusammenarbeit und ermöglicht es, eine starke Gemeinschaft aufzubauen und erfolgreich umzusetzen. Das Wohnprojekt wird nicht (wie z.B. in einem Unternehmen) hierarchisch, sondern in Kreisen aufgebaut. Kreise bestehen aus mehreren Menschen, die auf Augenhöhe und gleichwertig miteinander arbeiten. Die Verantwortungs- und Entscheidungsbereiche von Kreisen sind klar abgesteckt und transparent. Innerhalb der Kreise kann es definierte Rollen geben, die in einer offenen, wertschätzenden Wahl besetzt werden.

Die Organisation in Kreisen und ausformulierte Rollendefinitionen schaffen klare Zuständigkeiten über konkrete Verantwortungen und ermöglichen eine hohe Beteiligung aller Mitglieder. Durch die Kreisstruktur bleibt die gemeinschaftliche Organisation außerdem flexibel, was es leichter macht, schnell und angemessen auf Veränderungen zu reagieren.

Die doppelte Verlinkung

Durch die doppelte Verlinkung, ein weiteres Basisprinzip der soziokratischen Kreismethode (SKM), wird sowohl die Transparenz als auch die Mitgestaltung in soziokratischen Organisationen gefördert. Sie gewährleistet, dass die Arbeitskreise untereinander vernetzt sind. So sind zumindest theoretisch alle Informationen über das Geschehen in den jeweiligen Kreisen miteinander verknüpft. Dies gewährleistet jeweils eine Vertreterin des übergeordneten und untergeordneten Kreises in jedem der beiden. Jede Person sitzt mit dem Hintergrund des entsandten Kreises in der Runde. Damit kann z.B. der Werkstatt-Delegierte eines Fahrradladens rein mit den Belangen seiner „Abteilung“ im geschäftsführenden Steuerungskreis sitzen. Umgekehrt sitzt ein Entsandter des Steuerungskreises im Werkstattkreis und wird dort entsprechende übergeordnete Belange mit einbringen können. So wird vermieden, dass die jeweiligen Kreise in ihrer „Fach- oder Verantwortungsblase“ festsitzen und gleichzeitig ermöglicht, dass sie mit den Abhängigkeiten anderer in Kontakt gebracht werden. Eine gängige Grundlage für Konflikte in klassisch strukturierten Unternehmen ist das Marketing und Produktdesign versus Controlling, die oft viel zu spät miteinander zusammenfinden. Wenn eine andere Form der Transparenz von Entscheidungen und Abhängigkeiten gefunden wird, kann in kleinen gemeinschaftlichen Organisationen auf die doppelte Verlinkung verzichtet werden, so wie aktuell im Öko.See.Dorf gehandhabt.

Entscheidung im Konsent

Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist die Entscheidung im Konsent. Dies bedeutet, dass Entscheidungen getroffen werden, wenn niemand in der Gruppe einen schwerwiegenden Einwand im Sinne der gemeinsamen Vision hat. Widerstände werden als Geschenk betrachtet, denn in ihnen kann wertvolles Wissen für die Gruppe und das gemeinsame Vorhaben schlummern. Der Prozess ist klar strukturiert und hilft effizient, die Schwarmintelligenz und emotionale Betroffenheit der Gruppe in Entscheidungen zu integrieren.

Über die Zeit lernen alle Beteiligten besser in „persönlichen Widerständen“ und „Widerständen in Bezug auf das gemeinsame Ziel“ zu unterscheiden. Beides darf da sein, aber gerade in Entscheidungsprozessen wird unterschiedlich damit umgegangen. 

Struktur von Kreistreffen oder Plena

Die Soziokratie bringt eine sehr klare Struktur mit, die dabei hilft Arbeitskreistreffen effizient zu gestalten und gleichzeitig alle mit einzubeziehen. Die (gewählte) Moderation leitet durch das Treffen, der zeitliche Rahmen und die Agenda ist transparent. Jede:r kann Themen einbringen und ist in der Verantwortung für sich im Vorhinein zu klären: Was brauche ich von der Gruppe? Es wird unterschieden in:

Informationen, 

Meinungen und 

​Entscheidungen 

Agendapunkte werden entsprechend vorbereitet und angekündigt. Meinungen werden immer in Form von Runden eingeholt, das bedeutet jede Person erhält nacheinander das Wort. Dadurch hat Jede:r die Möglichkeit etwas zu sagen (auch die Leisen/ Zögerlichen) oder das Wort weiterzugeben. Querdiskussionen oder direkte Reaktionen werden vermieden, was vor allem zum Start ein großes Lernfeld für viele Beteiligten ist.

Durch diesen Prozess kann die Schwarmintelligenz richtig zum Tragen kommen. Persönliche Meinungen ändern sich im Laufe einer Runde häufig sehr deutlich und alle werden von den Meinungen anderer inspiriert oder beeinflusst – diese Beeinflussung ist explizit gewünscht. Denn nur so können Entscheidungen getroffen werden, die später auch von allen getragen werden – wirklich tragbare Entscheidungen. Daher werden diese Runden auch als Meinungsbildungsrunden bezeichnet. 

Transparenz als Grundlage

Viele Elemente soziokratischer Struktur beruhen auf Transparenz und unterstützen dadurch ein kooperatives Umfeld. Daher ist es nur schlüssig, dass die Transparenz als eines von sieben Grundprinzipien der Soziokratie 3.0 gilt. Ohne alle wichtigen oder notwendigen Informationen kann sich in der Meinungsrunde kein differenziertes Meinungsbild formen. Dies wird benötigt, um eine tragfähige Lösung zu finden. Schon bevor ein Thema in einen Kreis kommt, möglichst viele Informationen dazu bereitzustellen, ist daher ein gängiges Vorgehen. Dies reduziert die für ein Thema notwendige Zeit in der Gruppe. So können in der Informationsrunde ggf. nur noch Verständnisfragen gestellt werden. 

Transparenz ist auch ein wichtiges Element der offenen Wahl: Es mag vielleicht erstmal irritieren, dass in der SKM die offene Wahl als Basisprinzip bezeichnet wird, besonders mit dem geschichtlichen Hintergrund – denn für die geheimen Wahlen wurde in der Vergangenheit hart gekämpft. Bei der offenen Wahl schafft Transparenz ein wenig mehr Sicht im trüben Wasser. Zuerst werden die Rollen- oder Kreisbeschreibung mit allen Rahmenbedingungen wie Zuständigkeiten, Verantwortungen und Abhängigkeiten vorgelesen. So kann jeder verstehen und ein klareres Bild davon haben, welche Herausforderungen auf die Gewählten zukommen werden. Anschließend prüft jeder für sich welche Person für die Rolle oder den Kreis geeignet scheint und schreibt diese Ideen auf einen Zettel. Danach werden diese Vorschläge in einer Runde genannt und begründet. Dies ruft die gesamte Vielfalt der Gruppe ab und schenkt jeder einzelnen genannten Person eine Wertschätzung. Erst in der zweiten Runde fließen Verfügbarkeit ein (vor allem im Ehrenamt) und findet eine Nachschärfung der Meinungen statt. Wo bei einer klassischen Wahl eher die „großen, lauten Fische“ gesehen werden, finden sich auf diese Weise auch kleinere, leisere, aber deutlich geeignetere Fische. Dass diese Art der Wahl dabei noch Zusammenhalt und Gemeinschaft fördert, sei nur am Rande bemerkt.

Ohne Transparenz von Informationen und Entscheidungsprozessen kommt ein agiles System wie eine soziokratische Struktur heutzutage nicht mehr aus. Sie fördert Kooperation und Schwarmintelligenz. 

Projektfortschritt im Blick

Der Grundsatz "good enough for now, safe enough to try" hat das Öko.See.Dorf immer wieder dazu inspiriert, Dinge kleinschrittig auszuprobieren, anstatt sie in langen theoretischen Diskussionen zu erörtern. Durch die drei Elemente: Kreisstruktur, Konsent-Entscheidung und diesen Grundsatz, ist es dem Öko.See.Dorf gelungen, sich immer wieder an neue Gegebenheiten anzupassen und zu einer starken Gemeinschaft heranzuwachsen. So konnten in der letzten Versammlung rechtlich vorgeschriebene Ämter der Genossenschaft und des Fördervereins angemessener in die soziokratische Struktur der Organisation eingebunden werden.

Wir neigen häufig dazu, alle Eventualitäten zu bedenken und zu diskutieren. Die passende Informationsbasis für eine Entscheidung muss gegeben sein – keine Frage! Dennoch ist es oft hilfreich, einen Experimentierzeitraum zu bestimmen oder einen Teilaspekt von einer Kleingruppe ausprobieren zu lassen und dann anhand dieser Erlebnisse oder Daten weiter zu entscheiden.

Steuern durch Spannungen – Spannungen als Motor der Gruppe

Inspiriert durch die  Soziokratie 3.0 (S3) versuchen wir uns im Öko.See.Dorf verstärkt durch Spannungen zu steuern. Wenn jemandem etwas auffällt, wird versucht, diese Spannung zu formulieren. Beispielsweise lagen den größeren strukturellen Anpassungen im Sommer 2023 eine Sammlung von verschiedenen Spannungen zugrunde:

Gewählte Vorstände sitzen im Lenkungskreis und sprechen aus dieser Rolle heraus, obwohl sie im Lenkungskreis eigentlich einen Arbeitskreis vertreten. Dies führt zu Missverständnissen, es fehlt Klarheit.

In den letzten 3 Monaten haben uns 3 Wohn-Interessierte zurückgespiegelt, dass sie Schwierigkeiten haben, unsere Strukturen zu verstehen. Es dauert 20 Minuten, unser Konstrukt zu erklären und Abweichungen zu erläutern. Dies erfordert erhöhte Aufmerksamkeit und Bereitschaft.

Aus diesen formulierten Spannungen heraus können dann Diskussionen oder Arbeitsaufträge entstehen. Dieses Vorgehen hilft, die eigene Betroffenheit oder Emotionalität (erst mal) außen vorzulassen, um möglichst nachvollziehbar zu beschreiben, welche Zustände herrschen und wo eventueller Änderungsbedarf ist. Nach einigen Jahren zeigen uns die eigenen Erfahrungen, dass dieses Übungsfeld in Bezug auf Wahrnehmung, Kommunikation und Priorisierung sehr hilfreich ist!

Zusammengefasst sind Spannungen Momente, bei denen es anfängt, individuell oder strukturell zu zwicken und zwacken. Dann nicht beim Kratzen als bekannte Symptombehandlung zu bleiben, sondern neugierig zu suchen, woher diese kommen und was es wirklich braucht, ist die Herausforderung und schlussendlich die hohe Kunst. Dafür lohnt es sich bei sehr starken Spannungen auch einen Blick von außen in Form einer Prozessbegleitung zu suchen. Die Einstellung, dass solche Unterstützung es schlicht wert ist, hat das Öko.See.Dorf schon den Weg durch manche Täler ermöglicht.

Fazit: Kultur und innere Haltung

Zusätzlich zu den grundlegenden Prinzipien der Soziokratie, die im Öko.See.Dorf erfolgreich angewendet werden, ist es wichtig zu verstehen, wie diese Prinzipien in den Kontext anderer Wohnprojekte oder Initiativen übertragen werden können. Dabei geht es nicht nur um die Anwendung von Regeln, sondern auch um die Schaffung einer Kultur des respektvollen Miteinanders und der kontinuierlichen Verbesserung. Die Soziokratie bietet ein Rahmenwerk, das es Wohnprojekten ermöglicht, ihre Prozesse zu strukturieren, ihre Kommunikation zu verbessern und letztendlich eine lebendige und funktionierende Gemeinschaft zu werden.

Erstellt von Jessica Weber und Jochen Dambacher | LinkedIn folgen

Was ist Soziokratie?

Nach dem Reformpädagogen Kees Borke ist Soziokratie eine Organisationsform, die von einer Gleichberechtigung der Individuen ausgeht und auf dem Prinzip der Zustimmung beruht. Eine genaue Erklärung, was Soziokratie ist, findest du in unserem Glossar Gemeinschaftlich Wohnen von A bis Z.

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